Seitdem Waldbrandbekämpfung von Flugzeugen aus geschieht, haben die Feuerwachttürme in Oregon an der Nordwestküste der USA ausgedient. Heute stellen sie Gästezimmer in bester, wenn auch extrem einsamer Lage. In zwei dieser ungewöhnlichen Unterkünfte kämpfte ich mit Stürmen, Sasquatches und meiner Fantasie.
Nachts um zwei Uhr knirscht es plötzlich. Das Bett bewegt sich, zugleich verdunkeln die Wolken den weißen Mond. Tiefblaue Schatten legen sich über die Bergkämme. Wieder knirscht es, dieses Mal genau unter dem Kopfkissen. Schliefe ich zu ebener Erde, ich würde mich nach einer Weile einfach auf die andere Seite drehen und weiter schlafen. Doch dieses Bett steht auf dünnen Planken, darunter gähnt der Abgrund. Ich wohne auf einer rundum verglasten Plattform an der Spitze eines 15 Meter hohen, hölzernen Feuerwachtturm, der mit über 50 Jahren auch nicht mehr der jüngste ist. Zu allem Überfluss wird der Wind nun stärker, heftige Böen lassen sein Gerippe spürbar schwanken. So laut ächzt und stöhnt es im Gebälk, dass ich den Umzug ins Auto erwäge. Kann der Turm umkippen? Halten die Drahtseile, die ihn, ich möchte jetzt bitteschön positiv denken, vorm Wegfliegen bewahren sollen? Hier im Siskiyou National Forest in der unwegsamen Kalmiopsis Wilderness ist Hilfe weit, weit weg: Nach Brookings, der nächsten Siedlung am Pazifik, sind es 40 Kilometer durch menschenleeren Tann.
Der „Quail Prairie Lookout“ ist einer von etwa 40 Feuerwachttürmen, die das US Department of Agriculture (USDA) in Oregon noch betreibt. Früher standen über 200 dieser „fire tower“ auf den Bergkämmen und -gipfeln des Nordwestküstenstaats. Die Wächter hüteten und kontrollierten die Wälderwildnis, soweit die Ferngläser reichten. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt war das Funkgerät – und brachial durch die bergige Wildnis getriebene „logging roads“, einspurige Pisten, deren gewagter Verlauf mir auch heute noch die Haare zu Berge stehen lässt. Oft schoben die Männer monatelang hier oben Dienst, ohne einer anderen Menschenseele zu begegnen.
Manch einer dieser hauptberuflichen Eremiten bekam den Hüttenkoller, so einsam war der Alltag hier. Einer, erzählt die zerfledderte Fotokopie eines alten Tagebuchs im Quail Prairie Lookout, sah bei der Ablösung den Kollegen auf dem Dach des Ausgucks stehen. Der Arme hielt sich für Superman und war drauf und dran los zu fliegen, um Lois Lane zu retten. Ein anderer langweilte sich so sehr, dass er sich mit einem Maulwurf unterhielt. Eines Tages biss ihn das Vieh in die Nase. Daraufhin schwollen dem Armen die Augen zu, und der nächststationierte Kollege musste mitten in der Nacht 40 Kilometer durch finstersten Tann zurücklegen, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Doch die Einsamkeit produzierte nicht nur Geschichten von Menschen und Maulwürfen, sondern auch Smokechaser-Legenden von Männern, die ein Feuer am Horizont mit bloßem Augen bis auf einen Meter genau orten konnten und mit selbstlosem Einsatz Brandkatastrophen verhindern halfen.
Anfang der sechziger Jahre ging die Firetower-Ära zu Ende. Seit 1964 werden Waldbrände in Oregon nur noch aus der Luft geortet. Der USDA Forest Service hat seitdem die meisten Türme ausgemustert und abgerissen, das Schicksal der Übrigen ist ungewiss. Derzeit verdienen sie ihren Unterhalt als Gästezimmer in allerbester Lage. Wer das vorhersagbare Übernachtungseinerlei in den Kettenhotels leid ist, kann sich für 70 US-Dollar pro Nacht vom USDA ein garantiert unvergessliches Übernachtungserlebnis fernab menschlicher Behausungen sichern. Die in luftiger Höhe eingerichteten Beobachtungsplattformen, in denen die Wächter damals Dienst schoben, sind spartanisch eingerichtete Behausungen mit Platz für bis zu vier Personen und nur über steile Treppen oder Leitern erreichbar. Am Boden muss ein Plumpsklo reichen. Eine Dusche ist in den meisten Fällen Fehlanzeige und/oder funktioniert oft auch nicht. Schlafsack, Wasser und Proviant müssen mitgeführt werden.
So ungewöhnlich wie die Unterbringung sind Reservierung und Anreise. Der USDA Forest Service ist nicht auf Touristen eingestellt, entsprechend unschuldig („I had no idea we still had those towers“) sind die Beamten am Telefon. Sobald jedoch das zuständige Ranger-Büro ausfindig gemacht ist, erhält man ein Reservierungsformular zugeschickt, das man am besten umgehend ausgefüllt und mit Zahlungsanweisung zurückschickt – während der Sommermonate werden die leichter erreichbaren Lookouts lange im Voraus gebucht. Zwei Wochen später kommt die Bestätigung ins Haus, zusammen mit der Kombination („Turn right 3 times to 32; Left full turn past number to 2; Turn right, stop, pull shackle at 12“), die die Schranke am Anfahrtsweg zum Turm öffnet. Wenn man ihn denn gefunden hat, denn die Wegbeschreibung des USDA ist recht diffus: Zu meinem Turm brauchte ich glatte drei Stunden statt der angegebenen eineinhalb, weil ich mitten im – nur spärlich ausgeschilderten – National Forest die falsche Abzweigung (Kostprobe O-Ton USDA-Broschüre: „Make a left after 16 miles from Brookings“) nahm und mich auf dem falschen Berg wiederfand.
Der Quail Prairie Lookout tauchte also auf, kurz bevor ich die Geduld verlor. Er stand auf einer baumlosen Kuppe und ragte wie ein dünner Zeigefinger noch einmal 15 Meter über dem bereits 1000 Meter hohen Gipfel auf. Während die Sonne im Westen theatralisch in den Pazifik fiel und die ersten Sterne am Himmel funkelten, schleppte ich meine Siebensachen die vier engen Stiegen hinauf und bezog mein Quartier. Das vom Supermarkt in Brookings mitgebrachte Essen – Bratwürste, Kartoffelsalat, Sandwichs und Bier – schmeckte hier oben so gut wie im Gourmet-Restaurant. Die Aussicht über diese Wilderness war natürlich klasse. Bis zu 2000 Meter hohe, teils arg zerklüftete Höhenzüge bildeten eine betrunken kreuz und quer verlaufende Topografie ohne jede Regelhaftigkeit. Wohl auch deshalb wurde die einzigartige Flora dieser Wildnis erst in den vierziger Jahren vollständig erfasst.
Periodische Waldbrände sorgen für den Fortbestand der Kalmiopsis-Flora. Der letzte war im September 1987, als innerhalb von zwölf Stunden mehr als 500 Blitze einschlugen und den gesamten Westen in Brand setzten. Bei der Bekämpfung spielte der Quail Prairie Lookout damals eine Schlüsselrolle: Allein in seinem Kontrollbereich waren zeitweise 1800 Feuerwehrleute rund um die Uhr im Einsatz. Es dauerte zwei Monate, bis das größte Feuer in der Geschichte Oregons endgültig unter Kontrolle gebracht worden war.
Eintragungen im zerknitterten Gästebuch schwärmen von Waschbären und Hirschen auf der Lichtung unterhalb des Turms. Ein Gast glaubt, abends vom Balkon aus einen „cougar“, einen Berglöwen, gesehen zu haben, ist sich aber nicht sicher: „Jedenfalls sah der Schatten, der um mein Auto strich, so aus.“ Die letzte Stunde vor dem Zubettgehen verbringe ich auf dem umlaufenden Balkon der Plattform. In der Berglöwen-Broschüre von Oregon State Parks steht, was bei einer Begegnung mit dieser gefährlichen Wildkatze zu tun ist: „Bleiben Sie ruhig. Laufen Sie nicht weg, das könnte den Angriffsinstinkt der Katze auslösen. Heben Sie Ihre Arme, um größer auszusehen.“
Prompt und ungelogen dringt vom Waldrand ein lang gezogenes, hustenähnliches Geräusch herüber. Das mit dem Ruhigbleiben ist so eine Sache. Steigen Berglöwen Treppen? Ich schließe doch lieber die Bodenluke und ziehe sicherheitshalber noch eine schwere Kiste darüber. Danach suche ich den Waldrand mit dem Fernglas ab. Noch einmal dringt das rauhe Husten herüber. Unheimlich klingt das. Vielleicht ist es gar kein Berglöwe. Vielleicht ist es ein Sasquatch, der legendäre Waldmensch? Die Einsamkeit in der Wildnis regt die Fantasie an. Nachts stieben Sternschnuppen weiß über den Himmel, ein lauer Wind streicht um meinen Turm ..
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