Radtour: Sattel-Fest auf Martha´s Vineyard

Die Kennedys, die Clintons, die Obamas: Martha´s Vineyard vor der Küste von Cape Codist als geschniegelte Promi-Insel bekannt. Auf einer Radtour entdeckt man jedoch auch das andere Gesicht des amerikanischen Sylt.
MV-organisch

Eines steht fest: Würde Fred Croft anderswo im Gastgewerbe arbeiten, er wäre schon längst gefeuert. Wie er ab und an seine Passagiere anblafft, ginge glatt als Kündigungsgrund durch. Auch seine Dienstkleidung lässt zu wünschen übrigen. Die bollerige Jeans ist speckig und dreckig – wenn nichts los ist, geht er am Ende der Pier angeln und reibt sich nachher die Hände am Hosenboden sauber. Doch Croft kann sich das leisten. Er gehört zu der Sorte Mann, die nur einmal schief zu lächeln braucht, um Damen zu charmieren und Herrren um seine Gunst buhlen zu lassen. Ein echter Kerl also. Mit einer Lebensgeschichte, die er so zum Besten gibt. “Bin vom College runter, dann wieder drauf, war 20 Jahre hier auf der Insel,  dann acht Jahre in Frankreich, dann in Maine, und jetzt wieder hier. Seit drei Jahren. Glaub´ ich.”

Niedlich: Freds Radfahrer-Fähre

Seitdem ist Fred Kapitän der Bike Ferry. Der einzigen Radfahrer-Fähre in Nordamerika, wie er sagt. Mit dem Pontonboot schippert er jeweils bis zu sechs Radfahrer vom Fischernest Menemsha über die gerade 150 Meter breite Einfahrt der Menemsha-Lagune nach dem Indianerreservat Aquinna auf der anderen Seite. Wer von dort wieder zurück will, muss eine Glocke läuten. Wenn der Wind günstig ist, hört Fred sie und kommt. Falls nicht, muss man winken. Und zwar wie verrückt. “Sonst denke ich, da macht einer bloß Dehnübungen”, sagt Fred. Und lächelt wieder sein schiefes Freibeuterlächeln.

MV-Bike-Ferry

Schon am ersten Tag wird uns klar: Radfahren ist der Schlüssel zum Alter Ego dieser Insel, die alle Welt nur als Amerikas Promi-Insel wahrnimmt. Denn seit die Kennedys Martha´s Vineyard zum Feriendomizil erkoren und ein junger Steven Spielberg hier eine fies aussehende Hai-Atrappe auf  Badetouristen hetzte, berichten vor allem die Klatschspalten über Neuenglands größte Insel. Man weiss deshalb: Schauspieler und Musiker wie Michael J. Fox, Ted Danson und Carly Simon besitzen hier Cottages, die Clintons sonnen sich hier im Glanz der Kennedys, und Michelle Obama spielt hier Minigolf mit, so jubelt die Boulevardpresse, “vollem Körpereinsatz”.

Michelle Obama und andere Promis

Und die Skandale erst! Zunächst ruinierte Ted Kennedy seine Chance aufs Präsidentenamt, indem er auf der Nachbarinsel Chappaquiddick über ein Brückengeländer bretterte und seine Sekretärin/Gespielin im untergehenden Auto zurückließ. Zuletzt feierten Obamas Sicherheitsleute hier unmittelbar vor der Ankunft des US-Präsidenten wie die Rockstars. Übrigens noch vor dem PR-Desaster in Kolumbien.

MV-Gemüsestand

“Ach was”, sagt Phil Hughes von Wheel Happy in Edgartown und sucht ein Tourenrad mit bequemem Altherrensattel aus. Edgartown – putzige alte Holzhäuser, bunte Blumen in allen Fenstern, Hotels, Restaurants, Jachthafen – ist das schönste der drei größeren Städtchen auf Martha´s Vineyard. Und platzt wie Oak Bluffs und Vineyard Haven im Sommer aus alle Nähten, wenn die Bevölkerung um das Zehnfache auf 150000 anschwillt und sich ein endloser Autostrom durch die engen Straßen und Gassen wälzt. Das kann ja heiter werden. “Ach was”, sagt Phil, ein gemütlicher Kerl mit freundlichem Gesicht, wieder und faltet eine Karte auseinander.

Paradies für Radfahrer

“Ward Ihr schon mal im Yosemite Nationalpark? Da bleiben 95 Prozent aller Besucher im Tal. Nur 5 Prozent schauen sich den Park wirklich an.” Auf Martha´s Vineyard ist das angeblich nicht anders. Die meisten Besucher wollten nur Strände und Action und blieben deshalb in den Städten an der Nordseite. Wir schauen uns die Karte näher an. Ein paar Landstraßen, ein paar Dörfer mit altmodischen Namen wie West Tisbury, Chilmark, North Tisbury, das war´s auch schon: Vielleicht hat er ja Recht. “Fahrt nach Menemsha”, empfiehlt Phil zum Abschied. “Nehmt die Music Road. Danach wollt Ihr nirgendwo anders radeln!”

MV-View

Menemsha also. Der Radweg ist eine Wucht. Auf der Insel gibt es 80 Kilometer davon. Und doppelt so viele ruhige Landstraßenkilometer. Doch bald kommen wir in dem hügeligen Terrain ganz schön ins Schwitzen. Vom anfänglichen Hochmut von wegen Mini-Insel keine Spur mehr. In West Tisbury steigen wir völlig durchnässt ab und humpeln im Alley´s General Store mit steifen Beinen zu den kalten Getränken. Alley´s versorgt die Umgebung seit 1858 mit Angelhaken, Spielzeug und Nahrungsmitteln und dient auch als Postamt.

Per Rad durch das unbekannte Martha´s Vineyard

Am Schalter treffen wir Louis Larsen aus Menemsha. Der 87-jährige Fischer gibt hier seine Briefe nach dem Festland auf. “Nach Amerika”, wie er sagt, und damit meint er die grandiose Abwesenheit von Malls und Fastfoodketten auf der Insel. Draussen auf der Bank erzählt er von den Stürmen und wie er immer wieder heil auf die Insel zurückkehrte. Nur einmal habe er daran gezweifelt, 1960. Da sei, kaum hatte er New Bedford verlassen, ein kalter Nordwestwind auf ihn niedergefahren, der das Schiff so schnell mit einer dicken Eisschicht versiegelt habe, dass die Crew weder in den Maschinenraum gelangte noch den Ofen im Ruderhaus anwerfen konnte.

MV-Honour-System

Louis schickt uns zu seiner Tochter Betsy in Menemsha. Betsy führt den Fischmarkt im Hafen, doch vorher verfahren wir uns gründlich. Erst finden wir in dem Gewirr aus schattigen Eichenalleen die Music Road nicht, und als wir schließlich die richtige Abzweigung entdecken, bleiben wir an einem Hüttchen mit Gemüsestand hängen. Keiner da, wir schließen auf Selbstbedienung. “Fußgänger und Radfahrer bekommen 10 Prozent Rabatt auf Gemüse”, steht auf dem Fensterrahmen. Drinnen steht ein Kühlschrank mit Feta-Käse, Rohmilch-Joghurt und  frischer Milch.

Organisches Gemüse bargeldlos

Draußen liegen organische Salate, Möhren und Äpfel aus. Wer hier kauft, hinterlegt das Geld in einer alten Konservendose und trägt auf einem Block daneben ein, was er mitgenommen hat. Das “Honour System” scheint zu funktionen, wie auch die Tauschbörse: Auf eine Dame namens Meg Higgins wartet eine Tüte “Special Tea”, und auf eine gewisse Marjorie Lau ein Buch. “Falls sie heute vorbei schaut”, steht auf dem Papierumschlag. Wer hier schummelt, dem droht die “Gander Guard”: Dieben, lesen wir auf einer Tafel an der Rückwand, wird ein wilder Ganter auf die Fersen gehetzt ..

MV-Betsy-Larsen

Im übrigen ist die Music Road ein Genuss. Hüfthohe, grasüberwachsene Steinmauern begleiten die Straße, dahinter liegen gepflegte Farmen auf grünen Matten. Bullerbü-Idylle, Auenland, pastorale Stilleben in Grün, Blau und Feldsteingrau. Später geht es auf der kurvenreichen Middle Road ernsthaft bergan. Bald sehen wir den Atlantik von ziemlich weit oben. Während der Schweiss fließt und die Schenkel brennen, fragen wir uns, wie wir diese Insel radeltechnisch so unterschätzen konnten.

Hummer und Fischer

Zuletzt geht es wieder abwärts, und zwar so steil, dass wir Bremsengummi riechen, als wir in Menemsha einrollen. Betsy ist voll im Stress. Mittags ist Larsen´s Fish Market für die Einheimischen d i e Adresse für Lobster Sandwiches. Für einen Witz und ein Erinnerungsfoto mit Hummern hat sie jedoch immer Zeit. “Hat mein Vater Euch nicht gesagt, dass wir Larsens eine gute Story niemals mit Fakten verderben?” Stimmt die Geschichte mit dem eisversiegelten Trawler etwa nicht? “Doch doch, die stimmt”, grinst Betsy. “ Nur bei der mit dem Kutter, der bei einem Stum vor der Küstenwachstation über dem Hafen landete, bei der müsst Ihr ein paar Abstriche machen ..!”

MV-Gay-Head-Light

Die Lobster Road auf der anderen Seite der Lagune markiert den schönsten Abschnitt der Tour. Rechts den Atlantik, links die Marsch und die verstreut im mannshohen Gestrüpp liegenden Häuser der Wampanoag-Indianer von Aquinna, und dahinter die Klippen von Gay Head mit dem berühmten Leuchtturm: Ebensogut könnten wir einen Strand in der Karibik entlang radeln. Auf der von Gebüsch  zugemauerten Lighthouse Road müssen wir uns noch einmal richtig ins Zeug legen, dann sind wir da.

Tagesziel: das Gay Head Lighthouse

Und irgendwie auch plötzlich wieder im touristisch-hektischen Martha´s Vineyard, weil die südlich verlaufende State Road Tourbusse und Tagesausflügler herbeischaufelt. Wir inspizieren den Leuchtturm, machen die obligatorischen Erinnerungsbilder und schwingen uns wieder auf die Sättel. Als wir an der die Glocke läuten, steht der Wind gut. Wir brauchen uns nicht zu verrenken, Fred hört uns und setzt unverzüglich über. Als wir die Räder auf die kleine Fähre schieben, haben wir Bob Marley im Ohr.

MV-Bike-Ferry-2

Wie spät ist es? Viere? Fünfe? Noch 35 Kilometer bis zur Dusche. Egal, wir schauen lieber ein paar  Eisvögeln nach, die dicht über dem Wasser der Lagune zischen, und erzählen Fred von unserer Begegnung mit dem anderen Martha´s Vineyard. Der Skipper rollt den Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. “War mit der Hauptgrund für uns damals, diese Fähre einzurichten”, sagt er. “Der Verkehr auf der State Road nervte uns gewaltig. Mit Hilfe der Fähre konnten wir die Radfahrer auf die schönere Lobster Road lotsen.” Doch dieser  Ausflug ins Seriöse währt nicht lange. Als wir ihn fragen, wieviele Gäste er denn am Tag übersetzt, ist Fred wieder ganz der Alte. “Menschenskinder, Ihr Deutschen wollt immer alles genau wissen. Keine Ahnung, ich zähle meine Passagiere nicht. Meine Einnahmen auch nicht. Ist mir auch so was von egal!” Als wir in Menemsha anlegen, raunzt er einen der Passagiere, der beim Anlegen helfen will, mit “Lass das, das mache ich selbst” an. Der Angesprochene lässt das Tau gehorsam fallen und schiebt sein Rad geknickt die Landebrücke hinauf. Merkt Fred, dass er zu weit gegangen ist? “Komm´ runter und iss ein paar Austern mit mir”, ruft er dem Armen hinterher, grinst schief und macht die Fähre an der Pier fest. “Ich sage immer, die Bike Ferry ist so etwas wie nicht genau beweisbare Wissenschaft. Und so soll es auch bleiben!” Wir danken und radeln im warmen Licht der untergehenden Sonne nach Edgartown zurück. Bloß kein Geschäftsplan, bloß keine Analysen. Ja, so soll es bleiben, Fred. So muss es einfach bleiben.

Weitere Infos gibt es online unter:

Martha´s Vineyards: www.mvy.com
Massachusetts Tourism: www.massvacation.de

Autor: Ole Helmhausen

Ole Helmhausen ist freiberuflicher Reisejournalist, Autor, Fotograf, Blogger und VJ und bereist seit 20 Jahren im Auftrag deutschsprachiger Zeitungen, Magazine und Verlage die USA und Kanada. Er lebt in Montréal (Kanada). Sie finden ihn auch auf: Facebook, Google+ und Twitter.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.