Kaum zu glauben. Es geht steil abwärts, die ganze Zeit. Ein paar Eidechsen gucken zu, wie man auf dem Hosenboden herumrutscht, über loses Geröll schlittert und sich die Waden aufschürft. Zwei, drei Mal versperren hausgroße Felsbrocken, an den Wänden lehnend, den Weg. Durch enge, dunkle Spalten geht es weiter, oben herum ginge es nur mit Seilen.
Während man sich hindurchquetscht, jagen die Gedanken sich. Wieviel wiegen diese Dinger wohl? Hoffentlich hält das. Sonst ist man Brei. Wie der Typ unten in Arizona, von dem sie in Escalante erzählt haben. Der von einer Springflut überrascht wurde und nachher mit Spachteln aus den Spalten heraus gekratzt werden musste. Ein paar Sekunden später aber umarmt Utah´s Wüstensonne einen wie den verlorenen Sohn. Weiter gehopst und gesprungen auf dieser Schutthalde, die im 50-Grad-Winkel auf den Lake Powell zu stürzt. Der Himmel: nur noch ein schmaler Streifen, in unerreichbarer Ferne, in einer anderen Zeit. Vom makellos blauen See weht eine kühle Brise herauf. Es ist totenstill. Jeder Schritt am Boden dieses zweieinhalb Meter breiten, aber hundert Mal so tiefen Schnitt in die rot leuchtende Geologie scheint Mutter Erde zu stören. Unvorstellbar, daß Vierspänner hier unterwegs waren.
Grand Staircase-Escalante National Monument: Glaube versetzt Berge
Und doch: Am 26. Januar 1880 kamen 236 Männer, Frauen und Kinder hier durch, und mit ihnen 86 Planwagen, tausend Rinder und mehrere Hundert Pferde. Der Bau der sog. Hole-in-the Rock-Road durch glaubensstarke Mormonen gehört zu den Heldenepen des Wilden Westens. 1847 waren sie, geführt von ihrem Propheten Brigham Young, von Illinois aus in ihrem gelobten Land Zion am Rand des Great Salt Lake angekommen. Angespornt von dessen Verheißung, nach dem Tode selbst Götter zu werden, kultivierten sie die Wüste und gründeten Salt Lake City. Von dort aus erschlossen sie ein Gebiet, das als “Utah Territory” von Young und seinen Nachfolgern regiert wurde. Amerika blieb ihr Lebensstil suspekt: vor allem die Vielweiberei, von Religionsstifter Joseph Smith als einziger Weg zu gottähnlicher Perfektion deklariert, trug ihnen erbitterte Gegnerschaft ein. Erst 1890 wurde Utah US-Bundesstaat – nachdem die Kirchenoberen auf Druck Washingtons die Polygamie verboten hatten.
Bis dahin wurden Siedler-Missionare ausgeschickt, um die Grenzen des Territoriums zu sichern. Vor allem in den noch unerforschten Südosten Utahs. Nur Gerüchte drangen herauf, von Stammeskriegen zwischen Navajos und Paiutes und von Gesetzlosen, die hier Unterschlupf fanden. 1878 initiierte die Kirche daher die Gründung einer Kolonie am San Juan River, um dieses Niemandsland zu befrieden. Der Weg durch Nord-Arizona, den ein Erkundungstrupp im Sommer 1879 nahm, stellte sich jedoch als zu trocken für die Rinder und unberechenbarer Indianer wegen als zu gefährlich heraus. Man beschloss den direkten Weg: Die bereits in Parowan südlich von Salt Lake City wartenden Siedler sollten den Trail über die Rockies nach dem Missionsposten Escalante nehmen, den Colorado überqueren und sich von dort zum San Juan River durchschlagen. Was sie hinter Escalante erwartete, wusste niemand: Das Land, das heute als Grand Staircase – Escalante National Monument unter Schutz steht, war unbekannt. Dennoch war man optimistisch: In sechs Wochen, noch vor Einbruch des Winters, sollte der San Juan erreicht sein. Für diesen Zeitraum wurden Vorräte geladen. Die Siedler folgten, wissend, daß sie Gottes Willen erfüllten. Am 22. Oktober 1879 setzte sich der Treck in Bewegung.
Escalante: Alte Wunden sitzen tief
Heute ist Escalante ein 800-Seelen-Städtchen an der UT-12. Man züchtet Vieh und Pferde in der winzigen Oase, durchreisende Touristen bessern die Haushaltskasse auf. Geändert hat sich seit 1879 nicht viel, vor allem eines nicht: Man lebt noch immer am Rand der großen Leere. Das hinter der Ortsausfahrt beginnende Labyrinth der Canyons und Gulches ist nach wie vor der entlegenste Flecken Erde in den USA. Erst in den 1930er Jahren wurde es kartografiert, bis heute gibt es unbenannte Berge, Mesas und Plateaus. Wer hier lebt, lebt von 10 000 Dollar jährlich und hat viel Zeit. Und ein langes Gedächtnis. Erstunken und erlogen, sagt die Dame hinter´m Tresen von Escalante Outfitters zornig: Nicht totzukriegen das Gerücht, die Bewohner Escalantes hätten damals die Preise flugs vervierfacht, als der Treck Ende November hier durchkam. Denn die Siedler hatten ihre Vorräte nahezu aufgebraucht. So ein Quatsch, sagt die Dame, sie macht den einzigen Espresso zwischen hier und Cedar City, wieder. Knorrige Einheimische an kleinen Tischen nicken. Ihre Vorfahren waren doch keine Unmenschen. Sie wussten doch, daß der Treck den schwierigsten Abschnitt noch vor sich hatte..
Eine Landschaft wie ein Schnittmuster: Stunden der Entscheidung
Acht Kilometer östlich von Escalante zweigt eine zweispurige Piste von der UT-12 nach Südosten ab. Dies ist die berühmt-berüchtigte Hole-in-the-Rock-Road, jene Strecke, die der Treck auf seinem Weg von Escalante zum Colorado in den Sandsteinboden fräste. Ein 90 Kilometer langes Denkmal für amerikanischen Pioniergeist, die Kraft des Glaubens und für reine Sturheit. Nur wenige Touristen nehmen es unter die Räder. Die Landschaft: seit 1879 unverändert. Damals wie heute führt die Piste über eine von zahllosen “wash-outs” zerfurchte Ebene, flankiert von der Mauer des Kaiparowits Plateau zur rechten und den Escalante Canyons zur linken. Die letzten zehn Kilometer: Felsenwüste, glatter “slickrock”, nur mit hochbeinigen Allradfahrzeugen machbar. Am Ende jene V-förmige Kerbe im Fels, die ihr den Namen gab. Dazwischen: jede Menge Geschichten, die von demoralisierenden Schneestürmen handeln, von Geburten unter Verschlägen, und immer wieder von der Suche nach Gras und Wasser für tausend Rinder. Nirgendwo in den Aufzeichnungen Sätze zur Schönheit der Landschaft. Devil´s Garden, surreale Türme und Bögen keine 500 Meter von der Straße, würdigten die Pioniere mit keinem Satz, ebenso wenig wie die engen Slot Canyons, die man erst sieht, wenn man davor steht, siebte Himmel für Climber und Hiker. Die Siedler hatten andere Sorgen. Sie mussten im Sand nach Wasser graben. Mussten die Rinder auf der Suche nach Gras immer weiter weg treiben vom Weg. Mussten vor allem die Nerven bewahren: Ihnen, die auf den Missionsruf ihrer Kirche hin freudig Haus und Hof verkauft hatten, brachten die Kundschafter nur schlechte Nachrichten. Die schlechteste kam im Forty-Mile-Camp: Zu hoch und steil sei die Klippe kurz vor dem Colorado, um mit den Wagen hinab zu fahren. War dies das Ende?
Mormonen-Pioniere: Im Glauben lag die Kraft
Dance Hall Rock, Kilometer 60. Eine fotogene Felseninsel am Streckenrand, mit einer Vorderseite geformt wie ein Amphitheater, wo man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hört. Hier vergaßen die Siedler vorübergehend ihre Sorgen. Abends kamen sie vom nahen Forty-Mile-Camp herbei, um das Tanzbein zu schwingen und sich mit frommen Liedern Mut anzusingen: “The spirit of God like a fire is burning, the latter-day glory begins to come forth..” Am 3. Dezember dann die Entscheidung: In einer Abstimmung votiert man gegen die Umkehr. Weitergehen soll es durch eine natürliche Vertiefung in anfangs beschriebener Klippe. Das Lager wird dichter an die Klippe verlegt, im Fifty-Mile-Camp wird ein Baby geboren, ein gutes Zeichen. Die Treckführer teilen die Männer in drei Gruppen auf, ihr Job: Die Kerbe von beiden Seiten mit Hacken, Schaufeln und Dynamit so weit zu verbreitern und zu vertiefen, dass die Wagen zum Colorado hinabfahren können. Sechs Wochen buddeln und sprengen sie sich durch den Fels, während die Frauen, die Versorgungslage ist prekär, im Camp die ersten Rinder notschlachten. Am Abend des 25. Januar ist das “Hole-in-the-Rock” fertig. Die Straße, sie ist eher eine Rutsche, ausgelegt mit Holzschwellen, die Schuttlawinen verhindern sollen. Frühmorgens am 26. setzen sich die 86 Planwagen in Bewegung: Schwere Ketten blockieren die Hinterräder, bis zu 20 Männer hängen sich als Bremser an hinten angebrachte Seile. Die vorgespannten Pferde, sie geraten in Panik, der Weg hinab zum Fluss ist zu steil. Die Wagen schieben sie an mit sanfter Gewalt. Kein Wagen geht verloren, niemand kommt zu Schaden. Noch 240 Kilometer bis zum San Juan. Erst im Frühjahr endet der Treck, der eigentlich nur sechs Wochen hatte dauern sollen.
In den 1960er Jahren wurde der vom Colorado River ausgehobelte Glen Canyon geflutet. Das untere Drittel der “Hole-in-the-Rock-Road” verschwand in den Fluten des Lake Powell. Heute legen Freizeit-Kapitäne hier unten an. Keuchend, schwitzend, übergewichtig kraxeln sie hinauf, was nach 120 Jahren von der Mormonen-Straße übrig geblieben ist. Die meisten geben irgendwann erschöpft auf. Wer es bis nach oben schafft, hat in der Regel nur Luft für ein Wort: Unglaublich.
Ole Helmhausen
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